Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen

Der Bundesgerichtshof verfolgt nunmehr eine gefestigte Rechtsprechung zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen in der Konstellation „Aussage gegen Aussage“. Die Konstellation besteht, wenn sich die Aussagen des Beschuldigten und die des möglichen Verletzten unvereinbar gegenüberstehen und weitere, unmittelbar tatbezogene Beweismittel fehlen.

Von der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen zu unterscheiden ist stets die allgemeine Glaubwürdigkeit von Zeugen als persönliche Eigenschaft, z.B. infolge ihres Berufes.

Steht Aussage gegen Aussage verlangt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung und Analyse der Aussage des einzigen Zeugen in den Urteilsgründen. Entsprechend sind in der Hauptverhandlung sämtliche Umstände aufzuklären, die die Entscheidung des Gerichts beeinflussen können:

„Die Rechtsprechung stellt besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung in Konstellationen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht. Erforderlich sind eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben.“

BGH, Urteil vom 07.03.2012 – 2 StR 565/11
„Bestreitet der Angeklagte den Tatvorwurf pauschal und hängt die Entscheidung allein davon ab, ob der vermeintlich Geschädigten zu glauben ist, muss der Tatrichter im Rahmen einer Gesamtschau erkennen lassen, dass er alle Umstände, die geeignet sind, seine Entscheidung zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat.“

BGH, Urteil vom 05.09.2002 – 3 StR 263/02
„Wenn das Tatgericht von der Glaubwürdigkeit der Aussage eines einzigen Belastungszeugen überzeugt ist, ist es nicht schon aufgrund des Zweifelssatzes (in dubio pro reo) an der Verurteilung des Angeklagten gehindert.“

BGH, Urteil vom 25.04.2018 –2 StR 194/17
„Denn bei einem Widerspruch zwischen mehreren Erkenntnisquellen hat das Gericht ohne Rücksicht auf deren Art und Zahl darüber zu befinden, in welchen von ihnen die Wahrheit ihren Ausdruck gefunden hat. Stehen sich Bekundungen eines – insbesondere einzigen – Zeugen und des Angeklagten unvereinbar gegenüber, darf das Gericht allerdings den Bekundungen dieses Zeugen nicht etwa deshalb, weil er (gegebenenfalls) Geschädigter ist, ein schon im Ansatz ausschlaggebend höheres Gewicht beimessen als den Angaben des Angeklagten.“

BGH, Urteil vom 05.11.2015 – 4 StR 183/15

Aussagegenese (Aussageentstehung und -entwicklung)

Die Aussagegenese, also die Prüfung der Entstehung und weiteren Entwicklung der Aussage stellt ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen dar. Deshalb ist sorgfältig aufzuklären, ob es z.B. suggestive Einflüsse auf die Aussage gab.

„Dabei ist der Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage besondere Bedeutung beizumessen. In einer solchen Konstellation hat der Tatrichter zudem in einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden Umstände darzustellen und in seine Überlegungen einzubeziehen.“

BGH, Beschluss vom 13.06.2017 – 2 StR 94/16
„So ist es (…) in aller Regel erforderlich, die Entstehung und Entwicklung der Aussage aufzuklären. Das gilt vor allem dann, wenn ein Zusammenhang mit familiären Auseinandersetzungen nicht von vornherein auszuschließen ist.“

BGH, Beschluss vom 23.05.2000 – 1 StR 156/00
„Wird die Aussage des einzigen Belastungszeugen hinsichtlich einzelner Taten oder Tatmodalitäten widerlegt, kann den übrigen Angaben nur gefolgt werden, wenn außerhalb der Aussage Gründe von Gewicht für ihre Glaubhaftigkeit vorliegen. Dies ist in den Urteilsgründen darzulegen.“

BGH, Urteil vom 29.07.1998 – 1 StR 94/98
„Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm in einem anderen Punkt folgen, so muss er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, dass der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewusst falschen Angaben gemacht hat. Dies gilt besonders, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung die Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung nicht gefolgt wird.“

BGH, Urteil vom 07.04.2005 – 5 StR 544/04
„[Das Tatgericht] muss sich jedoch insbesondere dann, wenn eine Aussageänderung eingetreten ist, bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist. Eine lückenlose Gesamtwürdigung der Indizien fehlt hier jedoch.“

BGH, Beschluss vom 19.04.2012 – 2 StR 5/12

Sofern das Gericht mögliche Lücken in der Aussage mit dem Phänomen der „Verdrängung“ erklären will, welches vor allem in der Traumatologie als Erklärung genutzt wird, so bedarf dies genauer Erörterung im Urteil.

„So ist namentlich ein allgemeiner Hinweis auf das – außerordentlich vielgestaltige und in der Fachliteratur intensiv diskutierte – Phänomen der „Verdrängung” in der Regel nicht geeignet, bestimmte Beweisergebnisse zu tragen; die Zitierung eher alltagspsychologischer Erkenntnisse bedarf, wenn sie nicht die Gefahr praktisch beliebiger Ergebnisse nach sich ziehen soll, einer sorgfältigen Überprüfung im Einzelfall.“

BGH, Beschl. v. 04.09.2002 – 2 StR 307/02

Aussagegenese bei kindlichen und jugendlichen Zeugen

Bei kindlichen sowie jugendlichen Zeugen ist die Aussagegenese, die Aussageentstehung und -entwicklung in der Regel aufzuklären, sofern der Beschuldigte die Tat bestreitet und dadurch Aussage gegen Aussage steht. Hingegen können besondere Umstände auch bei erwachsenen Zeugen die Exploration durch einen Sachverständigen gebieten.

„Bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung ist eine Gesamtabwägung aller relevanten Umstände erforderlich. Hierbei wird regelmäßig eine Auseinandersetzung mit den Umständen zu erfolgen haben, unter denen sich ein mutmaßlich Verletzter erstmals zu belastenden Angaben entschloss. Außerdem wird eine detaillierte Darstellung geboten sein, inwieweit der Belastungszeuge konstante Angaben machte und wie sich der Detailreichtum zwischen verschiedenen Vernehmungen entwickelte.“

BGH, Beschluss vom 27.04.2010 – 5 StR 127/10
„Unzureichende Würdigung der Aussage des einzigen Belastungszeugen bei unterbliebener Erörterung nicht fernliegender Falschbelastungsmotive sowie fehlende Einbeziehung der Entstehungsgeschichte der Aussage.“

BGH, Beschluss vom 24.04.2014 – 5 StR 113/14
„In den Urteilsgründen wird die Entstehungsgeschichte der Aussagen (…) mit keinem Wort erörtert, obgleich dieser bei der Bewertung kindlicher Zeugen in Missbrauchsfällen besondere Bedeutung zukommt.“

BGH, Beschluss vom 05.11.1997 – 3 StR 558/97

Aussagekonstanz

Das Kriterium der Aussagekonstanz gilt als das wohl wichtigste in der Würdigung einer Zeugenaussage. Natürlich unterliegt jede Erinnerung natürlichen Vergessensprozessen. Allerdings kann nicht jedes Vergessen mit natürlichen Prozessen erklärt werden.

„Zwar existiert kein Rechts- oder Erfahrungssatz des Inhalts, dass einem Zeugen nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden darf. In einem solchen Fall ist es aber regelmäßig erforderlich, dass auch außerhalb der Aussage liegende gewichtige Gründe benannt werden können, die es dem Tatrichter ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben. In Bezug auf körpernahes Geschehen gilt, dass dieses wenig vergessensanfällig ist.“

BGH, Beschluss vom 12.10.2022 – 4 StR 169/22
„Eine Inkonstanz in den Bekundungen eines Zeugen stellt einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar, wenn sie nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärt werden kann. Bei der Schilderung von körpernahen Ereignissen ist im Allgemeinen zu erwarten, dass der Zeuge insbesondere Körperpositionen bei der Haupthandlung auch über längere Intervalle in Erinnerung behält.“

BGH, Beschluss vom 02.02.2022 – 4 StR 457/21

Logische Konsistenz der Aussage

Als logische Konsistenz wird die innere Stimmigkeit und Folgerichtigkeit einer Zeugenaussage bezeichnet. Dazu gehört auch, dass diese Aussage nicht zu anderen Beweismitteln und Zeugenaussagen im Widerspruch stehen darf. Außerdem darf eine Aussage nicht den empirisch nachprüfbaren Sachgesetzen der Wissenschaft und Technik widersprechen.

„Die Beweiswürdigung steht mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft in einem zentralen Punkt nicht in Einklang. Sie lässt einen Erfahrungssatz außer acht, der eine Wahrscheinlichkeitsaussage zulässt. Deshalb erweist sich die Würdigung zugleich als lückenhaft.“

BGH, Beschluss vom 27.09.2001 – 1 StR 349/01

Emotionale Betroffenheit während der Aussage

Nicht selten führt die – vermeintliche – emotionale Betroffenheit eines Zeugen zu dem (falschen) Schluss, dies sei ein Kriterium für dessen Glaubhaftigkeit (frei nach dem Schlager „Tränen lügen nicht“):

„Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin stützt sich die Strafkammer auch auf den Eindruck, den sie von der Persönlichkeit der Zeugin gewonnen hat. „Die Zeugin vermochte während ihrer ganzen Vernehmung vor der Kammer kaum aufzublicken, hat geweint und fühlte sich in ihrer Rolle sichtlich unwohl. Einige Details gab sie erst auf mehrfache Nachfrage preis“ (…) Dabei setzt sich die Strafkammer nicht mit möglichen Alternativerklärungen dieses auffälligen Aussageverhaltens auseinander.“

BGH, Beschluss vom 27.04.2010 – 5 StR 127/10

Glaubhaftigkeit bei psychiatrischen Krankheitsbildern

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach mit der Glaubhaftigkeit von psychisch auffälligen Zeugen beschäftigt. Den Auffälligkeiten lagen psychiatrische Krankheitsbilder, in einigen Fällen eine Borderline-Störung zugrunde, genauer die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F60. 31).

Fraglich ist dann bereits die eigene Sachkunde des Gerichts. Grundsätzlich ist die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen jedoch ureigenste Aufgabe des Gerichts. Dies gilt aber nur im „Normalfall“:

„Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist nur dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht.“

BGH, Urteil vom 04.10.2017 – 2 StR 219/15
„Das Gericht kann sich bei der Beurteilung von Zeugenaussagen grundsätzlich eigene Sachkunde zutrauen. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände vorliegen, deren Würdigung eine spezielle Sachkunde erfordert, die dem Gericht nicht zur Verfügung steht (hier: tatzeitnahe Selbstverletzungen und Suizidalität, die auf eine Persönlichkeitsstörung hindeuten können).

Besondere Umstände können etwa gegeben sein, wenn Tatsachen auf eine Persönlichkeitsstörung eines Zeugen hindeuten, die wiederum einen Einfluss auf seine Aussagetüchtigkeit möglich erscheinen lässt. Da die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung und die Beurteilung ihrer Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit des Zeugen spezifisches Fachwissen erfordert, das nicht Allgemeingut von Richtern ist, bedarf die eigene Sachkunde in einem solchen Fall näherer Darlegung.“


BGH, Beschluss vom 28.10.2009 – 5 StR 419/09

Die Frage ist dann regelmäßig, ob das Gericht für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Hilfe durch einen Sachverständigen bedarf, der ein Gutachten zur Aussagetüchtigkeit (wegen einer psychischen Erkrankung) oder Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen anfertigt.

„Namentlich solche Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten, die nach den gängigen Diagnose-Instrumentarien auf das Vorliegen einer so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörung hinweisen können, könnten Anlass sein, die psychischen Aussagegrundlagen mit Hilfe eines geeigneten, in der Regel psychiatrischen Sachverständigen näher zu untersuchen.

Für die Beurteilung, ob und in welcher Ausprägung eine solche Störung vorliegt und wie sie sich auf Aussageentstehung und -qualität ausgewirkt haben könnte, wird, wenn erhebliche Anhaltspunkte für Auffälligkeiten vorliegen (hier: Häufige Selbstverletzungen mittels Schneiden zur „Entlastung“ bei Problemen), in der Regel die eigene Sachkunde des Gerichts nicht ausreichen.“


BGH, Urteil vom 12.08.2010 – 2 StR 185/10

Borderline-Störung und (unbewusste) Falschbeschuldigung

Staatsanwaltschaften und Gerichte denken häufig nur an eine bewusste Falschbeschuldigung. Nicht zu übergehen ist jedoch die Frage, ob auch eine unbewusste Falschbeschuldigung ursächlich für den Vorwurf einer Sexualstraftat sein kann. Zu denken ist u.a. an Scheinerinnerungen durch Auto- oder Fremdsuggestion und bei therapeutischer Aufarbeitung etwa an therapieinduzierte (falsche) Erinnerungen. Hierzu führt der BGH aus:

„Das Landgericht hat bei der Verneinung eines Falschbelastungsmotivs u.a. darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin keinen Anlass gehabt habe, erzwungene sexuelle Handlungen wahrheitswidrig zu behaupten (…)

Das neue Tatgericht wird vor dem Hintergrund der Borderline-Persönlichkeitsstörung der Nebenklägerin die Frage einer unbewussten Falschbelastung durch Auto- oder Fremdsuggestion eingehend zu prüfen haben.“


BGH, Beschluss vom 30.06.2015 – 5 StR 215/15

Deutlich hat sich der BGH zu Indizien positioniert, die auf eine Persönlichkeitsstörung hindeuten. Hierzu gehört zuvörderst selbstverletzendes Verhalten durch Ritzen:

„Selbstverletzendes Verhalten ist in der Regel Ausdruck einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Es entspricht der Lebenserfahrung, dass eine als gesichert erscheinende Überzeugung durch die weitere Beweisaufnahme wider Erwarten umgestoßen werden kann.“


BGH, Beschluss vom 06.02.2002 – 1 StR 506/01

Fortbildung: Rechtsprechungsübersicht des BGH im Sexualstrafrecht zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen bei Aussage gegen Aussage

Rechtsprechung zur
Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen

Unsere Rechtsprechungsübersicht des BGH in der „Aussage gegen Aussage“ Konstellation und zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen wird regelmäßig aktualisiert und erweitert.

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