Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit
Nirgendwo wird so viel gelogen wie vor Gericht.
Die Frage der Glaubhaftigkeit einer Aussage spielt in den Fällen eine maßgebliche Rolle, in denen keine Sachbeweise existieren und eine Aussage somit das einzige Beweismittel ist. Lügt die Aussageperson oder irrt sie nur, wie glaubhaft bzw. glaubwürdig ist sie?
Für den schnellen Überblick
Steht im Strafverfahren Aussage gegen Aussage ist die Glaubhaftigkeit einer Aussage von größter Bedeutung, wenn der Beschuldigte die Vorwürfe bestreitet oder hierzu schweigt. Die Aussage des möglichen Tatopfers stellt dann die einzige Grundlage einer Verurteilung dar, was der Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Zeugenaussage ein besonderes Gewicht verleiht. Wie werden solche problematischen Beweiskonstellationen gelöst?
Aussage gegen Aussage
In der Beweiskonstellation „Aussage gegen Aussage“ stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Zuverlässigkeit einer Aussage und damit, ob sie glaubhaft ist.

Glaubhaftigkeit vs. Glaubwürdigkeit
Wo ist der Unterschied zwischen Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit? Glaubwürdigkeit ist ein Persönlichkeitsmerkmal, Glaubhaftigkeit dagegen ein Aussagemerkmal. Die Glaubwürdigkeit bezieht sich also auf die allgemeine Glaubwürdigkeit einer Person, während die Glaubhaftigkeit nur die Aussage dieser Person betrachtet.
Früher sprach man Zeugen mit höherer gesellschaftlicher Stellung, z.B. Ärzten, Beamten, Rechtsanwälten und Polizisten eine höhere Glaubwürdigkeit zu, da sie über einen besseren „Leumund“ verfügen würden – damit ist es heute vorbei, so sollte es zumindest sein.
Eine Aussage ist nicht wegen der besonderen Persönlichkeit eines Menschen glaubwürdig, sondern wegen bestimmter Merkmale der Aussage glaubhaft. Dementsprechend gibt es kein Glaubwürdigkeitsgutachten, sondern ein Glaubhaftigkeitsgutachten, das der Frage nachgeht, ob die dem Gutachten zugrundeliegende Zeugenaussage glaubhaft ist.
Bedeutung der Erstaussage in der ersten Vernehmung
Die Problematik nimmt seinen Anfang in der Erstvernehmung eines Zeugen, meistens bei der Polizei. Die Vernehmungspersonen stehen unter großem Ermittlungsdruck. Man sucht Beweise gegen den Verdächtigen, dafür braucht es eine „gute“ Aussage der Zeugin oder des Zeugen, die möglichst keine Fragen offen lässt. Dieser – nennen wir es Übereifer – bewirkt oft genau das Gegenteil, nämlich eine schlechte Aussage. Allzu schnell verfällt die Vernehmungsperson dann in die Stellung suggestiver Fragen, ergreift einseitig Partei für das mögliche Opfer und ermittelt folglich eben nicht mehr ergebnisoffen.
Von der ersten Vernehmung hängt also geradezu die ganze Zukunft des Prozesses ab: Hier wird eigentlich fast immer der Sachverhalt endgültig geklärt oder endgültig verschleiert.
William Stern (1871-1938)
Diese falsch verstandene Empathie für das mögliche Opfer führt dazu, deren Vernehmung häufig lediglich oberflächlich zu gestalten. Die Schilderung zum fraglichen Kerngeschehen fällt nicht selten äußerst knapp aus. Die Zeugin oder der Zeuge bekommt oftmals geschlossene Fragen gestellt, die leicht zu beantworten sind. Geschlossene Fragen erlauben nämlich eine kurze Antwort, bei der bereits ein „Ja“ oder „Nein“ ausreicht. Diese fehlende Substanz lässt jedoch später vor Gericht keine Prüfung der Aussagekonstanz zu.
Man könnte sogar meinen, die Aussage der Zeugin oder des Zeugen wird überhaupt nicht mehr kritisch hinterfragt, vielmehr wird ihr/ihm geradezu „alles“ blind geglaubt.
Fehlende Dokumentation der Erstaussage
Ein weiteres Problem der Erstaussage bei der Polizei ist oftmals die unprofessionelle oder gänzlich fehlende Dokumentation: Wird ein Zeuge befragt, ohne dessen Vernehmung aufzuzeichnen, liegt kein Wortlaut dieser Aussage vor. Ebenso nicht, wenn die Vernehmungsperson nur das protokolliert, was sie für wichtig erachten. Eine Bewertung der Aussage des Zeugen ist dann schlicht nicht durchführbar.
Bewertung der Aussage durch Staatsanwaltschaft und Gericht
Die erste Prüfung der Aussage erfolgt in der Regel durch die Staatsanwaltschaft: Ist die Aussage glaubhaft? Genügt die Aussage den Anforderungen, die eine spätere Verurteilung des Beschuldigten erlaubt? Nur dann dürfte die Staatsanwaltschaft Anklage erheben.
Tatsächlich ist es in der Praxis regelmäßig so, dass die Staatsanwaltschaft eine Aussage so lange „zu halten“ versucht, wie es irgend geht. Richtigerweise sollte die Aussage jedoch objektiv bewertet werden, und zwar nach folgenden Kriterien:
- Enthält die Aussage logische Fehler (Unplausibilitäten)?
- Verstößt die Aussage teilweise gegen gesicherte Erfahrungssätze?
- Ist die Aussage unklar, widersprüchlich oder ersichtlich nicht vollständig?
- Zeugt die Aussage von einer übermäßigen Belastungstendenz?
- Hat der Zeuge eine Motivation für eine Falschaussage?
- Ist die Aussage konstant gegenüber früheren Aussagen (soweit vorhanden*)?
*Die Aussagekonstanz zählt zu den wichtigsten Kriterien der Inhaltsanalyse einer Aussage, kann aber nach nur einer Vernehmung (bei der Polizei) gar nicht beurteilt werden, denn es fehlt Vergleichsmaterial. Erfolgt die zweite Aussage erst in der Hauptverhandlung, kann die Konstanzanalyse erst dort erfolgen, meistens Monate bis Jahre nach der Erstaussage, mit oft erschreckenden Unstimmigkeiten, die sich im Vergleich der Aussagen offenbaren. Diese Unstimmigkeiten lassen sich plausibel weder mit natürlichen Vergessensprozessen, noch mit einer Erinnerungsverfälschung erklären.

Falsche Erinnerungen
Bei der Bewertung von Zeugenaussagen ist die Erlebnisbasierheit zu überprüfen, nicht weil ein Zeuge absichtlich lügt, sondern weil er sich möglicherweise täuscht und hierbei einer falschen Erinnerung glaubt.
Grundsatzentscheidung zur Glaubhaftigkeit von Aussagen
Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 1999 in seiner Grundsatzentscheidung BGHSt 45, 164 verbindliche Kriterien entwickelt, denen aussagepsychologische Gutachten (Glaubhaftigkeitsgutachten) genügen müssen. In dieser Entscheidung hält der 1. Strafsenat außerdem fest, dass es eben nicht darum geht, wie glaubwürdig eine Person, sondern ausschließlich wie glaubhaft deren Aussagen ist. Diese Überprüfung folgt einer festgelegten Methodik:
Das methodische Grundprinzip besteht darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt, also die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren, bis diese Negation mit sämtlichen gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Die/der Sachverständige nimmt für sein Gutachten zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt diese Prüfstrategie hingegen, dass die Nullhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird diese These verworfen. Es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine erlebnisbasierte (glaubhafte) Zeugenaussage handeln muss.

Rechtsprechungsübersicht
Der Bundesgerichtshof (BGH) verfolgt eine nunmehr sehr gefestigte Rechtsprechung zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen in der Aussage gegen Aussage-Konstellation.
Rechtsanwalt Mirko Laudon LL.M.
Rechtsanwalt Mirko Laudon LL.M. gilt bundesweit als Experte für Aussage gegen Aussage Konstellationen und die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen. Seit Jahren hält er Fortbildungen für Rechtsanwälte und Fachanwälte für Strafrecht in diesem Gebiet, doziert an der Medical School Hamburg im Masterstudiengang Rechtspsychologie und ist Autor in den wohl bedeutendsten Handbüchern zum strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und der strafrechtlichen Hauptverhandlung.