Grundlagen der Aussagepsychologie Anwalt
Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen
Die Aussagepsychologie ist ein Teilgebiet der Rechtspsychologie und befasst sich mit der Psychologie der Zeugenaussage. Durch sie soll beurteilt werden können, ob eine Zeugenaussage als glaubhaft einzuschätzen ist oder nicht.
Für den schnellen Überblick
Der Bundesgerichtshof hat in seiner Grundsatzentscheidung (BGHSt 45, 164) im Jahr 1999 die Aussagepsychologie als einzige wissenschaftlich fundierte Methodik zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen anerkannt und Mindestanforderungen festgelegt, die an aussagepsychologische Gutachten („Glaubhaftigkeitsgutachten“) zu stellen sind.
Grundlagen in der Aussagepsychologie
Die Aussagepsychologie kommt natürlich nur zum Einsatz, wenn Aussage gegen Aussage steht bzw. sogar nur die Aussage des möglichen Tatopfers vorliegt, weil der Beschuldigte1 zum Tatvorwurf schweigt. Nicht in allen Fällen wird dann ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt, denn die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist die „ureigenste Aufgabe des Gerichts“ bzw. im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Verfügt ein Gericht wegen Besonderheiten in der Person des Zeugen – ausnahmsweise – nicht über die erforderliche eigene Sachkunde, soll ein Sachverständigengutachten eingeholt werden.
Besondere Umstände können etwa gegeben sein, wenn Tatsachen auf eine Persönlichkeitsstörung eines Zeugen hindeuten, die wiederum Einfluss auf seine Aussagetüchtigkeit möglich erscheinen lässt. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sowie die Beurteilung ihrer Auswirkungen auf dessen Aussagetüchtigkeit erfordert spezifisches Fachwissen, das in der Regel nicht Allgemeingut von Richtern ist.2 Erhebliche Hinweise auf Auffälligkeiten sind z.B. häufige Selbstverletzungen mittels Schneiden zur „Entlastung“ bei Problemen.3

Glaubhaftigkeit von Zeugen
„Nirgendwo wird so viel gelogen wie vor Gericht“, heißt es. Ob ein Zeuge lügt oder seine Aussage glaubhaft ist soll methodisch durch die Aussagepsychologie überprüfbar sein.
Die Fragestellung an die Sachverständige lautet dann:
„Könnte dieser Zeuge eine solche Aussage mit dieser spezifischen inhaltlichen Qualität produzieren, ohne dass sie auf einem realen Erlebnis beruht?“4
Die Sachverständige führt dann mit der Zeugin eine eigene Untersuchung („Exploration“) durch, sofern sie sich hierzu bereiterklärt, denn die Teilnahme ist freiwillig (vgl. § 81c StPO). Wird die Teilnahme verweigert oder kommt aus anderen Gründen nicht zustande kann eine gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage angefertigt werden.
Und um das Ergebnis vorwegzunehmen: ungefähr die Hälfte aller Explorationen kommt zu dem Ergebnis, dass die Schilderung erlebnisbasiert ist5, wobei sich diese vorläufige Einschätzung im Laufe der Hauptverhandlung noch ändern kann.
Mindestanforderungen an aussagepsychologische Gutachten
Der Bundesgerichtshof hat in der Grundsatzentscheidung lediglich Mindestanforderungen vorgegeben, die sich wie folgt zusammenfassend systematisieren lassen:
Glaubhaftigkeit statt Glaubwürdigkeit
Beurteilt wird nur die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage und nicht die Glaubwürdigkeit insgesamt im Sinne einer personalen Eigenschaft.
Hypothesengeleitete Prüfstrategie
Die zu überprüfende Aussage wird zunächst als unwahr angesehen („Nullhypothese“) bis die Unwahrhypothese mit den in den weiteren Hypothesen erhobenen Fakten nicht mehr vereinbar ist. Dann gilt die Alternativhypothese, dass es sich hier um eine erlebnisbasierte Aussage handelt.
Indizierter Einsatz von Methoden
Die eingesetzten Test- und Untersuchungsverfahren ergeben sich aus den gebildeten Hypothesen, sodass daraus eine methodische Indikation resultiert, die handlungsleitend ist.
Prinzip der Aggregation der Indikatoren
Die gutachterliche Schlussfolgerung ergibt sich aus der Gesamtheit aller Indikatoren, denn nur dadurch werden deren Fehleranteile insgesamt gesenkt. Die Indikatoren haben je für sich einzeln betrachtet nur eine geringe Validität knapp über Zufallsniveau.
Qualität-Kompetenz Vergleich
Die Beurteilung der Aussage erfolgt aufgrund eines Vergleichs zwischen der Qualität einer Aussage und den individuellen Kompetenzen eines Zeugen. Regelmäßig gehört hierzu eine Sexualanamnese.
Nachvollziehbarkeit und Transparenz
Die Schlussfolgerungen werden dem wissenschaftlichen Transparenzgebot und dem Prinzip der bestmöglichen Sachaufklärung folgend nachvollziehbar und transparent dargestellt.
Der Erlebnisgehalt einer Aussage wird demzufolge nicht positiv identifiziert, sondern durch Zurückweisung konkurrierender Erklärungsmodelle erschlossen, was dem grundlegenden Prinzip der hypothesengeleiteten Psychodiagnostik folgt.6
Keinesfalls sollte ein Anwalt auf genügende Sachkunde einer Sachverständigen vertrauen, sondern das Gutachten sowie dessen Schlussfolgerungen selbst intensiv nachprüfen. Ist er dazu nicht in der Lage, muss er hierzu Hilfe in Anspruch nehmen, etwa mein Kapitel zu Glaubwürdigkeitsgutachten in den Handbüchern von Burhoff oder meine Fortbildungen.
Häufig werden nicht alle angezeigten Hypothesen überprüft oder jeweils zu oberflächlich, es wird das Prinzip der Aggregation der Indikatoren missachtet und einzelne Merkmale überwertet oder die Sachaufklärung ist nicht bestmöglich, sondern lückenhaft; etwa durch die fehlende Beiziehung von früheren Behandlungsunterlagen (anderer Psychologen bzw. Psychiater) oder Akten (z.B. des Jugendamts). Auf § 80 Abs. 1 StPO ist hinzuweisen.
Stets zu prüfen sind die Lügenhypothese (die Zeugenaussage ist bewusst falsch/gelogen) und Suggestionshypothese (… ist unbewusst falsch durch Auto- oder Fremdsuggestion).
Katalog aussagepsychologischer Hypothesen (nach Köhnken)
- Erlebnishypothese
» durch eigene Erlebnisse mit der beschuldigten Person begründet (irrtumsbehaftet?) - Hypothese einer erfundenen Falschaussage (Lügenhypothese)
» vollständig ausgedacht (frei erfunden) und entbehrt jeglicher Erlebnisgrundlage - Hypothese einer partiell ausgedachten Falschaussage
» in Teilbereichen ausgedacht (z.B. tatsächlich nicht entgegenstehender Wille) - Übertragungshypothese (Transferhypothese)
» tatsächlich erlebt, aber mit einer anderen als der jetzt beschuldigten Person - Suggestionshypothese
» durch suggestive Befragungen oder Therapien generiert (Auto-/Fremdsuggestion) - Umdeutungshypothese
» Neubewertung einer Beziehung oder eines Partners (z.B. nach Beziehungsende) - Induktionshypothese
» bewusst falsche Induktion durch Dritte
Prüfung der Suggestionshypothese (Aussagegenese)
Die Prüfung der Suggestionshypothese ist elementar, da suggestiv generierte Aussagen nicht hinreichend zuverlässig von erlebnisfundierten zu unterscheiden sind. Hier stößt die Methodik der Aussagepsychologie an ihre Grenzen.
Der Ausschluss der Suggestionshypothese ist Voraussetzung, dass überhaupt eine weitergehende Qualitätsanalyse der Aussage sinnvoll durchgeführt werden kann, weshalb diese im Untersuchungsaufbau zuerst zu prüfen ist:
Aussagevalidität
- Liegen ggf. (externe oder interne) Störfaktoren vor, die trotz vorhandener Qualitätsmerkmale Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erlebnisbezuges der Zeugen-aussage begründen?
- u.a. Auto-/Fremdsuggestionen, Scheinerinnerungen
Aussagetüchtigkeit
- Verfügt der Zeuge über die notwendigen kognitiven Voraussetzungen (z.B. Beobachtungs-, Erinnerungs-
und Ausdrucksvermögen)?
- Gibt es Besonderheiten, die hinsichtlich der Aussagequalität und -validität zu beachten sind?
Aussagequalität
- Weist die Zeugenaussage besondere inhaltliche Qualitätsmerkmale auf, die in erlebnisbasierten Angaben zu erwarten sind, hingegen in einer frei erfundenen Aussage fehlen würden?
- Vergleich zwischen intellektuellen Fähigkeiten und Kompetenzen der Person und dessen Aussage
Der einzig mögliche Zugang zur Überprüfung der Suggestionshypothese ist die akribische Rekonstruktion der sog. „Geburtsstunde“ der Aussage, der Aussageentstehung und ihrer weiteren Entwicklung.7 Der Erstaussage kommt eine fundamentale Bedeutung zu.
Relevante Fragestellungen zur Aufklärung der Aussageentstehung und -entwicklung:
- Wann ist der Vorwurf das erste Mal wem gegenüber erhoben worden?
- Wie hat der Aussageempfänger auf diese Aussagen reagiert?
- Mit wem hat der Zeuge über seine Zeugenaussage gesprochen?
- Hat sich der Zeuge über längere Zeit mit seinen Aussagen beschäftigt?
- Hat der Zeuge vor seiner Zeugenaussage dazu im Internet recherchiert?
- Wer hat die Zeugenaussage zum ersten Mal schriftlich festgehalten?
- Gibt es Hinweise auf suggestive Einflüsse in den Aussagen?
Nach potenziell suggestiver Aussagegenese ist mithilfe der Aussagepsychologie eine Erlebnisfundierung nicht mehr feststellbar, das Beweismittel Opferaussage invalidiert.8
Prüfung der Lügenhypothese (merkmalsorientierte Inhaltsanalyse)
Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse dient der Überprüfung der Lügenhypothese. Allerdings ist zu konstatieren, dass der größte Feind der Wahrheit der Irrtum, nicht die Lüge ist. Es kommt viel öfter vor, dass Zeuginnen und Zeugen sich irren als dass sie bewusst lügen.
Grundannahmen der aussagepsychologischen Begutachtung
Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse geht methodisch von zwei Grundannahmen aus:
1. Falsch Aussagende müssen die Aussage aus ihrem Schemawissen konstruieren, so dass diese erfundenen Aussagen meist eine geringere Qualität aufweisen und weniger schema-inkonsistente sowie -irrelevante Elemente als erlebnisbasierte Schilderungen aufweisen. Demgegenüber ist in erlebnisbasierten Schilderungen insgesamt ein hohes Maß an Detaillierung und individueller Durchzeichnung festzustellen bzw. zu erwarten.
2. Falsch Aussagende sind bemüht, sich aus Gründen strategischer Selbstpräsentation besonders glaubhaft darzustellen und lassen daher alles weg, was seine Schilderung infrage stellen würde.
Zur Untersuchung werden die Konstanzanalyse und Realkennzeichenanalyse verwendet, die für jede geschilderte Tathandlung gesondert geprüft werden muss. Fehlerhaft wäre, die Feststellung der Erlebnisbasiertheit einer Handlung unbesehen auf andere Handlungen zu übertragen oder das Kern- und Randgeschehen zu vermischen.
Beispiel für fehlerhafte Schlussfolgerungen
Die Nebenklägerin schildert verschiedene sexuelle Handlungen. Kommt die Untersuchung für die eine Handlung zum Ergebnis, dass diese erlebnisbasiert ist, darf dies nicht für alle anderen Handlungen gelten. Ebenso verhält es sich, wenn die Zeugin das Randgeschehen, beispielsweise die Gespräche an diesem Abend detailreich wiedergeben kann, darf dieses Realkennzeichen keinesfalls auf das Kerngeschehen bezogen werden.
Aussagekonstanz und Realkennzeichen
Die Konstanzanalyse basiert auf der Annahme, dass Beobachtungen realer Vorgänge und eigene Erlebnisse besser im Gedächtnis behalten werden als Aussageinhalte, die ausgedacht, auf Bildern und in Filmen oder durch Gespräche wahrgenommen wurden. Erwartet wird folglich eine hinreichende Konstanz zwischen zeitlich aufeinanderfolgenden Aussagen – zwischen der polizeilichen Vernehmung, der Exploration und der Hauptverhandlung.
In der Realkennzeichenanalyse wird nach bestimmten inhaltlichen Realitätskriterien (Realkennzeichen) gesucht, die in nicht erlebnisfundierten Aussagen eine geringere Auftretenswahrscheinlichkeit aufweisen als in solchen über selbst real erlebte Ereignisse. Umgekehrt ist die Abwesenheit erwartbarer Realkennzeichen ein Hinweis auf unwahre Angaben, ebenso wie die Feststellung eines „negativen“ Realkennzeichens ein Lügensignal ist.
Liste der Realkennzeichen (nach Steller/Köhnken)
- Allgemeine Merkmale
- Logische Konsistenz/Widerspruchsfreiheit
- Ungeordnete Reproduktionsweise
- Quantitativer Detailreichtum
- Spezielle Inhalte
- Kontextuelle Einbettung
- Beschreibung von Interaktionen
- Reproduktion wörtlicher Rede
- Beschreibung unvorhergesehener Komplikationen
- Inhaltliche Besonderheiten
- Ungewöhnliche oder originelle Details
- Überflüssige Details
- Phänomengemäße Beschreibung unverstandener Ereignisse
- Externe Assoziationen
- Beschreibung eigener psychischer Vorgänge
- Beschreibung psychischer Vorgänge bei dem Beschuldigten
- Äußerungen zur Selbstpräsentation
- Spontane Selbstkorrekturen
- Zugeben von Erinnerungslücken
- Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Aussage
- Selbstbelastungen
- Entlastung des Beschuldigten
- Deliktspezifische Details
- Beschreibungen von deliktspezifischen Merkmalen
Die Aussagekonstanz muss sich auch auf die Schilderung der Realkennzeichen erstrecken, da es keiner besonderen kognitiven Leistung bedarf, diese in einer einzelnen Vernehmung durch eine ausschmückende Erzählweise zu generieren.
Kritik an der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse
Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse ist von geringer Validität und leicht manipulierbar, durch ein Zeugencoaching, wie es von einigen Nebenklageverterinnen zu beobachten ist. Lügende Zeugen könnten sich durch eine unstrukturierte Erzählweise und das Einräumen von Unsicherheiten gerade „eine Tür offenhalten“, sich also nicht auf bestimmte Tatsachen festlegen lassen wollen, um frühere oder spätere Erinnerungsunsicherheiten zu kaschieren. Eine (ggf. unbewusste) ausschmückende Erzählweise generiert falsch positive Signale.
Maßgeblich hängt es dann von der Sachverständigen ab, ob sie die Manipulation erkennt und welche Schlussfolgerungen sie generell zieht. Die Methode trifft grundsätzlich lediglich Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Glaubhaftigkeit, sie hängen subjektiv vom Sachverständigen ab, d.h. ein anderer Sachverständiger könnte Merkmale genau entgegengesetzt deuten. Daher sind die Ergebnisse der Begutachtung äußerst subjektiv und fehleranfällig.
Selbst wenn das Gutachten zum Ergebnis kommt, dass diese Aussage nicht erlebnisbasiert ist, bleibt offen, ob diese Aussage tatsächlich ohne Erlebnishintergrund erfolgte, denn der Nicht-Nachweis der Glaubhaftigkeit ist etwas vollkommen anderes als der Nachweis der Nicht-Glaubhaftigkeit. Das Gericht könnte der Schilderung aber dennoch glauben.
Rechtsanwalt Mirko Laudon LL.M.
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Rechtsanwalt Mirko Laudon LL.M. ist Fachanwalt für Strafrecht mit Kanzleien in Hamburg und Berlin. Seit mehr als 10 Jahren befasst sich intensiv mit der Aussagepsychologie und gilt bundesweit als Experte für Aussage gegen Aussage Konstellationen. Er gibt außerdem Fortbildungen für Rechtsanwälte und Fachanwälte für Strafrecht auf dem Gebiet der Aussagepsychologie, hält regelmäßig Vorträge vor künftigen Aussagepsychologinnen an der Medical School Hamburg im Masterstudiengang Rechtspsychologie und ist Autor zu den Themen Beweiswürdigung, Aussage gegen Aussage sowie Glaubwürdigkeitsgutachten in den bedeutendsten Handbüchern zum Ermittlungsverfahren und zur Hauptverhandlung.

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Sie haben weitere Fragen?
Wann ist eine Zeugenaussage glaubhaft?
Eine Schilderung ist dann glaubhaft, wenn sie nicht bewusst oder unbewusst „unwahr“ ist, z.B. durch komplette oder teilweise Erfindung, durch suggestive Einflüsse oder durch eine nachträgliche Umdeutung einer Situation.
Was bedeutet erlebnisbasiert?
Die Grundfrage der Glaubhaftigkeit ist, ob eine Schilderung erlebnisbasiert ist, d.h. auf einem eigenen Erleben beruht, welches realitätsgetreu geschildert wird. Fehlt es daran ist die Schilderung ohne Erlebnishintergrund, d.h. nicht erlebt und somit unwahr.
Warum ist die Erstaussage wichtig?
Die Erstaussage erfolgt in der Regel unbeeinflusst von möglichen späteren suggestiven Einflüssen. Schon die Reaktion des Erstaussageempfängers auf die Erstaussage wird zu einer Veränderung dieser führen. Deshalb muss genau geprüft werden, welche Tatsachen in der Erstaussage mitgeteilt wurden.
Was ist die Nullhypothese?
Die Nullhypothese besagt, dass eine Zeugenaussage zur Überprüfung zunächst als unwahr angesehen wird (Falsifikationsprinzip). Zur Prüfung dieser Unwahrhypothese hat der Sachverständige weitere Hypothesen zu bilden, die als Erklärungsmöglichkeiten relevant sein könnten. Lassen sich diese Hypothesen mit den erhobenen Fakten nicht vereinbaren, gilt die Alternativhypothese, dass es sich um eine erlebnisbasierte (glaubhafte) Zeugenaussage handelt.
Was sind Realkennzeichen bzw. Realitätskriterien?
Realkennzeichen (auch Realitätskriterien genannt) sind inhaltliche Aussagemerkmale, die eher in erlebnisbegründeten Schilderungen auftreten als in frei erfundenen Schilderungen. Diese sind von der Bedeutung her eher überbewertet, da sie für sich genommen nur eine geringe Validität aufweisen.
- Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet und jeweils die praktisch bzw. statistisch häufigste Form verwendet, also „der“ Beschuldigte, „die“ Zeugin (damit gemeint ist die Person, die den Tatvorwurf erhebt), „die“ Sachverständige. ↩︎
- BGH, Beschluss vom 28.10.2009 – 5 StR 419/09; zu finden in unserer Rechtsprechungsübersicht. ↩︎
- BGH, Urteil vom 12.08.2010 – 2 StR 185/10; zu finden in unserer Rechtsprechungsübersicht. ↩︎
- Gebräuchlich ist auch die ausführlichere Fragestellung: „Könnte dieser Zeuge mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen (und den gegebenen Befragungsbedingungen) und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüssen Dritter diese spezifische Aussage gemacht haben, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund beruht?“ ↩︎
- Volbert/Schemmel/Tamm: Die aussagepsychologische Begutachtung: eine verengte Perspektive?, FPPK 2019, 108 [111] ↩︎
- Greuel: Aussagepsychologische Exploration, in: Dohrenbusch, Psychologische Begutachtung (2023) ↩︎
- Einzelheiten bei Köhnken, in: Müller/Schlothauer/Knauer, MAH Strafverteidigung (3. Aufl. 2022) § 60 Rn. 21 ff. ↩︎
- Steller, in: Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspychologie (2008), S. 307 ↩︎