Falsche Erinnerungen
— Erinnerungsverfälschung und unbewusste Falschbeschuldigung
Unsere Erinnerung kann uns täuschen. Eine Erinnerung ist kein „Foto“ der Vergangenheit, sondern unterliegt einer besonderen Dynamik. Jede Erinnerung verändert und verfälscht sich über die Zeit und lässt falsche Erinnerungen entstehen.
Für den schnellen Überblick
Diese Erinnerungsverfälschung meint das unabsichtliche Verfälschen bestehender eigener Gedächtnisinhalte, die wie die fantasierende Einbildung neuer eigener Gedächtnisinhalte (Konfabulation) beide zu den Selbsttäuschungen gehören. Diese unbewussten Vorgänge unterscheiden sich von der bewussten Falschaussage (Lüge) vor allem dadurch, dass die sich erinnernde Person selbst ihre Aussage für richtig hält.
Das trügerische Gedächtnis
Die Erinnerungsverfälschung ist ein dynamischer Prozess und findet nicht nur einmal statt. Bei jedem Erinnern können neue Informationen verknüpft werden und bereits vorhandene können verloren gehen. Dadurch werden Erinnerungen fortentwickelt und können nahezu beliebig verändert und verfälscht werden. Ebenso geschieht dies auch mit Dingen, die wir lediglich gehört oder uns vorgestellt haben. Geht eines Tages diese Quellinformation „das habe ich gehört“ oder „das habe ich mir vorgestellt“ verloren, wird die falsche Erinnerung zu einer Scheinerinnerung. Es ist ein bisschen wie „Stille Post“ – nur eben mit sich selbst. Wir werten die Erinnerungsverfälschung als echte, die falsche Erinnerung ist entstanden.
Die Frage ist nicht, ob eine Erinnerung falsch ist, sondern wie falsch sie ist.
Julia Shaw, Rechtspsychologin und Autorin „Das trügerische Gedächtnis“
Verstärkt werden falsche Erinnerungen durch visuelle Unterstützung, z.B. durch Fotos. Viele „Erinnerungen“ aus der Kindheit etwa haben wir von alten Fotos und Geschichten hierzu, aber eben nicht aus einer originären, eigenen Erinnerung.

Glaubhaftigkeit
Bei der Bewertung von Zeugenaussagen ist die Glaubhaftigkeit zu prüfen, nicht weil ein Zeuge absichtlich lügt, sondern weil er sich vielleicht täuscht und hierbei einer falschen Erinnerung glaubt.
Aktuelle Studien1 legen nahe, dass wahre und suggerierte Erinnerungsberichte nur anhand von Aussagemerkmalen oder Selbsteinschätzungen nicht ausreichend sicher unterscheidbar seien, denn qualitativ gleichen sich beide Erinnerungsformen einfach zu sehr.
Rückwirkende Umdeutung
Bekanntlich neigen wir dazu, eine Partnerschaft nach deren Ende rückblickend kritischer zu betrachten als zu der Zeit als diese noch bestand. Hierbei handelt es sich um eine Art Rückschaufehler. Dieser Effekt lässt sich auf viele Beziehungsaspekte übertragen: warum war ich überhaupt so lange mit der Person zusammen? Viele Dinge erscheinen plötzlich in einem völlig neuen Licht, die man während der Beziehung aber offenbar noch ganz anders bewertet hatte. Es ist daher größte Vorsicht geboten, wenn nach dem Ende der Beziehung Strafanzeige erstattet wird für länger zurückliegendes Geschehen, denn die Erinnerung ist möglicherweise fehlerhaft und durch das Beziehungsende eingetrübt.
Erhöhte Anfälligkeit für falsche Erinnerungen
Drogen, insbesondere Cannabis2, aber auch Alkohol3 kann die Wahrscheinlichkeit signifikant erhöhen, dass falsche Erinnerungen entstehen oder man für Suggestionen empfänglicher wird. Sie können beeinflussen, wie Informationen gespeichert und abgerufen werden, was sowohl die Qualität als auch die Genauigkeit von Erinnerungen verschlechtern kann.
Grundlagen der Aussagepsychologie
Die Aussagepsychologie bildet die einzige wissenschaftlich fundierte Methodik für die sachverständige Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen sowie der Einteilung in „echte“ und falsche Erinnerungen.

Therapieinduzierte falsche Erinnerungen
Scheinerinnerungen an sexualisierte Gewalt in der Kindheit sind manchmal auf suggestive Einflüsse in Psychotherapien oder anderen lebensberatenden Maßnahmen zurückzuführen. Die Patientin oder der Patient sucht für unspezifische, allgemeine Lebensschwierigkeiten nach einer Ursache. Die Person merkt, dass ihr Leben anders verläuft, als das der Kollegen und Freunde. Sie wendet sich an dubiose Therapeuten*, die sie z.B. im Internet gefunden hat. In dieser „Therapie“ wird dann häufig schnell die Kindheit und mögliche traumatische Erlebnisse thematisiert. Damit ist eine vermeintliche Erklärung für all die Lebensschwierigkeiten gefunden und die Scheinerinnerungen sind geboren. Paradoxerweise haben diese belastenden Scheinerinnerungen eine entlastende Funktion, die Ursache für biografisches Versagen liegt dann außerhalb der eigenen Person.4
*Diese „Lebenshelfer“ haben oft nie eine Universität gesehen, sondern sich meist in teuren Wochenendseminaren fortgebildet, die ihnen wohlklingende Zertifikate verleihen, z.B.
- Trauma-Berater
- Fachberater Psychotraumatologie
- oder schlicht: Life Coach
Viele Therapeuten sind Heilpraktiker für Psychotherapie, haben nicht Psychologie studiert, sondern lediglich eine Prüfung abgelegt, um danach Psychotherapien anbieten zu dürfen. Eine Dokumentation belegt, wie dort falsche Erinnerungen aktiv befördert werden:
Suggestive Therapieformen
Die Vorstellung, „traumatische Erinnerungen“ könnten viele Jahre unterdrückt werden und später, etwa im Rahmen einer Psychotherapie, wieder ins Bewusstsein rücken, ist sowohl in der Allgemeinbevölkerung wie auch unter Therapeuten weit verbreitet. Zahlreiche Mandate haben gezeigt, dass suggestive Einflüsse auch von Psychologen und Psychiatern und von Kinder- und Jugendpsychologen sowie -psychiatern ausgehen können, die teils abwegige Thesen vertraten („ich kann einer Person ansehen, ob sie Missbrauch erlebt hat“).
Darüber hinaus kommen nicht selten auch stark suggestive Therapieformen zum Einsatz, u.a. Hypnose, katathymes Bilderleben, imaginative Verfahren (wie Phantasiereisen) sowie EMDR5, eine traumafokussierte Intervention zur Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Es bedarf mithin gar keiner „aufdeckenden“ Therapien6 mehr, um maximalsuggestiv auf die Patientin oder den Patienten einzuwirken, in dem Glauben, man könne ihr oder ihm damit helfen.
Scheinerinnerung
Als Scheinerinnerung werden Sachverhaltsschilderungen bezeichnet, von deren Richtigkeit die Aussageperson überzeugt ist, obwohl der berichtete Sachverhalt sich gar nicht oder jedenfalls nicht in der beschriebenen Form zugetragen hat.7
Bedingungen zur Generierung von Scheinerinnerungen
- Empfänglichkeit für Suggestionen (falsche Erinnerungen)
Suggerierte Inhalte werden mit höherer Wahrscheinlichkeit übernommen, wenn die Lösung geeignet ist, einen Mangel zu beheben zu oder zu mindern. - Aktive Suggestion
Ein suggerierter Inhalt wird an der dafür empfänglichen Person angeboten oder Inhalte, die in Medien sehr präsent sind, werden in autosuggestiver Form selbst aufgegriffen (ggf. werden sie durch Dritte verstärkt). - Plausibilität des Ereignisses
Der suggerierte Inhalt liefert eine passende Erklärung für die Probleme und wird durch eine vertrauenswürdige Quelle an die Person herangetragen. - Plausibilität zwischenzeitlichen Nichterinnerns
Es gibt eine eigene Erklärung dafür, warum der suggerierte Inhalt temporär nicht erinnert wurde, z.B. durch Verdrängung. - Generierung bildhafter Vorstellungen
Die Überzeugung, dass traumatisierende Erfahrungen vorgelegen haben müssten, kann eine Uminterpretation von tatsächlichen Erinnerungen bewirken oder eine explizite Suche nach Erinnerungen auslösen. Hierbei wirken therapeutische Techniken, sich eine fiktive Situation besonders bildhaft darzustellen, sehr begünstigend. - Quellenverwechslungsfehler
Eine über längere Zeit anhaltende Beschäftigung mit der Thematik führt dazu, dass die Erinnerung besonders vertraut erscheint und besonders schnell abgerufen werden kann. Abrufflüssigkeit, Vertrautheit und bildhafte Vorstellungen sind wichtige Kriterien, eine falsche Erinnerung für eine real erlebte zu halten.
(nach Volbers/Schemmel/Tamm, FPPK 2019, 108)
Selbst im Verfahren beauftragte aussagepsychologische Sachverständige nahmen die Zusicherung des Therapierenden, keine suggestiven Techniken angewandt zu haben, kritiklos hin. Erst in der Befragung der Therapeut:innen durch Rechtsanwalt Mirko Laudon LL.M. in der Hauptverhandlung kamen diese abwegigen Thesen und Techniken ans Tageslicht.
Gerade in psychotherapeutischer Behandlung sind die Patient:innen bereit, Suggestionen und Interpretationen des Therapeuten für erlebte Wahrheit zu halten. Die Behandlung ist von vornherein suggestiv angelegt: Wenn schon die Grundannahme ein Missbrauch in der Kindheit ist, sind alle daraus vermeintlich resultierenden Erkenntnisse zirkelschlüssig.
Hier können Sie einen spannenden Erfahrungsbericht lesen, wie in einer EMDR-Sitzung von einem erfahrenen Therapeuten falsche Erinnerungen generiert wurden.

Rechtsprechungsübersicht
Der Bundesgerichtshof (BGH) verfolgt eine nunmehr sehr gefestigte Rechtsprechung zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen in der Aussage gegen Aussage-Konstellation.
- Wachendörfer, M. M., & Oeberst, A. (2024). Differences between true and false memories using the Criteria-Based Content Analysis. Applied Cognitive Psychology, 38, e4246. https://doi.org/10.1002/acp.4246 ↩︎
- Caetano, T., Pinho, M. S., Ramadas, E., Lopes, J., Areosa, T., Ferreira, D., & Dixe, M. D. A. (2023). Substance abuse and susceptibility to false memory formation: a systematic review and meta-analysis. Frontiers in psychology, 14, 1176564. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2023.1176564 ↩︎
- Lilian Kloft, Lauren A. Monds, Arjan Blokland, Johannes G. Ramaekers, Henry Otgaar: Hazy memories in the courtroom: A review of alcohol and other drug effects on false memory and suggestibility. In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews. Band 124, Mai 2021, S. 291–307, https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2021.02.012 ↩︎
- Steller: Die Entdeckung der Scheinerinnerung, in: Deckers/Köhnken (Hrsg.): Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess (3. Band, 2019) ↩︎
- Während der EMDR-Therapie können Erinnerungen neu auftauchen, die zuvor von Patienten nicht benannt wurden. Eine Befragung von 357 EMDR-Therapeuten ergab, dass 87% über neu aufgetauchte Erinnerungen berichteten. (Liebermann, in: Hofmann, EMDR, 6. Aufl. 2024, S. 171) ↩︎
- vgl. Ein multidisziplinäres Handbuch von Tilman Fürniss. 2000, ISBN 978-3-8017-0880-1 ↩︎
- Köhnken, in: MAH Strafverteidigung (3. Aufl. 2022) § 60 Rn. 21 ↩︎